Ist es möglich, mit verschiedenen Identitäten zu leben? Ist es besser, sich eine eigene Welt, eine Antiwelt zu erschaffen? Damit setzt sich Nathan Devers in seinem neuen Roman „Künstliche Beziehungen“ auseinander, am Beispiel von Juliens Geschichte.
Julien Libérat ist ein junger Klavierlehrer und erfolgloser Komponist. Seine Freundin May hat ihn verlassen, aus der gemeinsamen Wohnung musste er ausziehen. Jetzt sitzt er in einem schäbigen Vorortzimmer in Rungis. In einer Pariser Kitschbar spielt er hin und wieder für Touristen das Woody-Allen-Repertoire aus „Midnight in Paris“. Sein Vorhaben, ein Album unter dem Titel „zusammen und getrennt“ herauszubringen, verfolgt er nicht weiter; er ist „ein Klumpen Passivität“, den längst verstorbenen Barden Serge Gainsbourg bewundernd, und steht sich selbst im Weg.
Statt kreativ zu werden, dröhnt er sich stundenlang im Internet mit Katzenvideos, Polizeimeldungen und TikTok zu. Dabei stößt auf einen Link der „Antiwelt“: ein Videospiel, das besser sein soll als das Leben selbst. Julien erstellt einen Account und einen Avatar namens Vangel. Schnell stellt er fest, dass sein Viertel in Rungis detailgetreu auch in der Antiwelt existiert, nur viel belebter und voller Aktivitäten. Wer von der Realität enttäuscht ist, findet hier einen schönen neuen Platz.
Adrian Sterner ist der Schöpfer des virtuellen Zweitplaneten. Er ist die französische Version eines Marc Zuckerberg oder Steve Jobs, ein mönchischer CEO und Superkapitalist. Zunächst scheint es so, als sei Julien ein Opfer der Antiwelt geworden. Er widmet ihr viel Zeit und Geld. Doch dann entwickelt sich Julien/Vangel zum Superstar. Er schreibt erfolgreich Gedichte und weiß das Cleargold-Geld, das er in der Antiwelt verdient, in handfeste Euros umzuwandeln.
So bildet er eine Gefahr für Adrian Sterner, der keine Götter neben sich duldet. Dieser beginnt zu handeln.
Fazit:
Eine kritische Auseinandersetzung mit den künstlichen Beziehungen und der virtuellen Welt, dazu Action und Tempo. Sogar Serge Gainsbourg hat einen kurzen Auftritt, im Roman und etwas verschwommen auf dem Buchcover!
Nathan Devers: Künstliche Beziehungen. Roman. Aus dem Französischen von André Hansen
Verlag S. Fischer 2024, gebundene Ausgabe, 336 Seiten, 26,00 €
ISBN: 978-3-10-397537-6
Noch ein Tipp: Um das Spiel mit verschiedenen Identitäten geht es auch im Roman von Camille Laurens: So wie du mich willst.