Anne Berest: Die Postkarte. Roman

Eine alte Postkarte mit vier Vornamen von Familienmitgliedern als Text – wer könnte sie geschrieben haben? Anne Berest will den Absender herausfinden. Bei der spannenden Spurensuche nach verschwundenen Verwandten, die fast alle von Nazis ermordet wurden, entfaltet sich die Geschichte ihrer jüdischen Familie.

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Buchcover Berlin Verlag: Berest, Die Postkarte

Im Januar 2003 fand Anne Berests Mutter Lélia Picabia unter den Neujahrswünschen eine verstörende Postkarte mit nichts als den Namen ihrer vier Angehörigen, die in Auschwitz vergast wurden: Ephraim, Emma, Noémie und Jacques. Kein Absender, keine Unterschrift. Lélia schloss die Postkarte zunächst in ihrem Archiv ein. Jahre später fragt ihre Tochter Anne Berest nach. Sie begann, das Schicksal ihrer Verwandten zu erforschen: Den Weg von Ephraim und Emma Rabinovitch mit ihren Kindern von Moskau über Riga nach Paris, in die französische Provinz bis zur Deportation in die Gaskammern.

Unerschütterlich ist Ephraims Glaube, dass seine Zukunft in Frankreich Bestand hält – bis es zu spät ist. Nur seiner Tochter Myriam, frisch verheiratet, gelingt die Flucht in die Provence und das Überleben. Wie sie das geschafft hat, erzählt dieser Roman sehr packend und authentisch. Aber auch das Jüdischsein von Anne Berest und der Antisemitismus von heute sind Thema. Schließlich finden die Autorin und ihre Mutter heraus, wer die Postkarte geschrieben hat und warum. Anne erkennt, was es für sie bedeutet, jüdisch zu sein: „Ich bin Tochter und Enkelin von Überlebenden.“

Anne Berest weiß spannend und mitreißend zu schreiben. Was dazu beiträgt, ist das Leben ihrer Großmutter Myriam, deren Lebensspuren Berest verfolgt. So erfahren wir, dass Myriams erster Ehemann Vicente Picabia war. Seine Mutter Gabrielle Picabia (französische Musikerin, Kritikerin und Schriftstellerin) rettete gemeinsam mit ihrer Tochter Jeanine Picabia (berühmte Resistance-Chefin) Myriam vor den Nazis, indem sie sie im Auto nach Südfrankreich brachte. Mit im Kofferraum versteckt: der Künstler Hans Arp.

Ein Kapitel von Anne Berests „Postkarte“ ist besonders erschütternd: die Rückkehr der halbtoten Deportierten aus dem deutschen „Arbeitsdienst“ nach Paris und die verzweifelten Versuche der Menschen, ihre vermissten Familienangehörigen wiederzutreffen. Für Myriam ist die Suche erfolglos. Doch dieser Roman führt viele Spuren zusammen und erinnert an Ephraim, Emma, Noémie und Jacques.

Fazit:

Eine aufmerksame Recherche, eine bewegende Familienchronik, ein Bild Frankreichs unter deutscher Besatzung und der Zeit danach: Anne Berest setzt mit der „Postkarte“ ihrer Familie ein literarisches Denkmal gegen das Vergessen.

Anne Berest: Die Postkarte. Roman. Aus dem Französischen von Michaela Meßner und Amelie Thoma

Berlin Verlag 2023, gebundene Ausgabe mit Schutzumschlag 544 Seiten, 28,00 Euro
ISBN 978-3-8270-1464-1

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