Rosenfeld, Adèle: Quallen haben keine Ohren. Roman

Buchcover Suhrkamp: Rosenfeld, Quallen haben keine Ohren

Die junge Frau Louise gewährt einen Einblick in die Welt der Gehörlosen: die Beeinträchtigungen, die Fallstricke der Sprache und die Kraft der Imagination. In Louises rechtes Ohr dringen noch ein paar Töne, links herrscht Stille. Seit ihrer Kindheit befindet Louise sich in einer Zwischenwelt. Im Hellen kann Louise die Lippen der Menschen lesen. Wird es dunkler oder sind Gesichter abgewandt, driftet sie ab in einen Zustand zwischen Fantasie und Realität. Nun steht eine wichtige Entscheidung an: Soll sie ihr verbliebenes natürliches Gehör durch ein Cochlea-Implantat ersetzen?

Es beginnen lange Monate des Zweifelns und Nachdenkens. Zunächst zieht Louise sich in ihre Träume und Vorstellungen zurück. Ihre Hörlücken füllt sie mit Imagination. Es erscheinen ein Soldat aus dem Ersten Weltkrieg, ein Hund namens Zirrus und eine launische Botanikerin, die Kommentare abgeben und ein Eigenleben führen.

Abgesehen von diesem reichen Innenleben existiert ja auch noch die reale Außenwelt. Darin erlebt sie ihren Berufsstart in der Stadtverwaltung samt Diskriminierung, dazu eine beginnende Liebesbeziehung, die sie nicht gefährden will. Und es gibt die anarchische Freundin Anna, die ihr vom Implantat abrät.

Stets begleitet Louise das Gefühl, keiner Welt zuzugehören: Sie ist nicht taub genug, um der Kultur der Tauben zugeordnet zu werden. Und sie ist nicht hörend genug, um vollständig an der Welt der Hörenden teilhaben zu können.

Die Autorin Adèle Rosenfeld, selbst von Geburt an schwerhörig, schildert in ihrem Debütroman „Quallen haben keine Ohren“ Louises Dilemma kraftvoll und poetisch. Sie erzählt Situationen, die absurd sind, surreal, und immer wieder ist ihre Sicht auch sehr humorvoll. Ich liebe den Roman für Sätze wie diesen, aus Louises Arbeitswelt in der Stadtverwaltung: „Verbeamtet war ein Wort, das über sämtliche Münder der Kantine wanderte.“

Übrigens: Quallen haben keine Ohren. Aber sie haben Sinnesorgane für die visuelle Wahrnehmung und das Gleichgewicht. Das erfährt Louise im Naturkundemuseum und fühlt sich direkt verwandt mit diesen Nesseltieren.

Fazit:

Dieser Roman hat eine starke Zugkraft und Spannung: Zum einen ist es etwas ganz Besonderes, das Phänomen der Schwerhörigkeit so eindringlich von einer Betroffenen erzählt zu bekommen. Zum anderen ist Louises Innenleben so fantastisch bevölkert – ich kann verstehen, dass sie diesen Raum nur ungern verlässt.

Rosenfeld, Adèle: Quallen haben keine Ohren. Roman. Aus dem Französischen von Nicola Denis

Suhrkamp 2023, fester Einband, 221 Seiten, 23,00 Euro
ISBN: 978-3-518-43135-1

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