austern deauville

Austern – gehobene Lebensart auf Französisch

Vom Arme-Leute-Essen zum Luxusprodukt: Austern haben ihren Anteil am Image Frankreichs als Land der Feinschmecker. Eines ist sicher – einen Schönheitswettbewerb werden Austern nicht gewinnen. Weder im geschlossenen Zustand als unansehnliche, von Seepocken und Napfschnecken überwachsene Kalkschatulle, noch als das Lebewesen, das sich darin verbirgt. Dennoch hat sich unser Gastautor mit dem ersten Biss verliebt.
Ein Gastbeitrag von Norbert Schulz-Bruhdoel für nachfrankreich.de über persönliches Testen, über Zucht und Qualität, über Wein und Brot und vieles mehr. Es wird reichlich geschlemmt!

Erste Austern bei Bofinger in Paris

Ich wusste nicht, dass ich es spontan richtig gemacht habe, als ich meine ersten Austern gekaut habe, nicht einfach geschlürft und runtergeschluckt. Der Geschmack mit seinen Nuancen kann sich nämlich erst entfalten, wenn das Fleisch von den Zähnen zerteilt wird.

Es war im April 1978 in der „Brasserie Bofinger“ in Paris (4. Arrondissement, Rue de la Bastille 5-7), als ich meine erste Auster aß. Das Lokal hatte ich nicht zufällig ausgesucht, dorthin hatte sich Konrad Adenauer mehrmals jährlich in seinem legendären Dienstwagen, dem Mercedes 300 fahren lassen, um sich zwei Dutzend Austern servieren zu lassen. Anschließend ging er mit seiner Escort-Lady, die bis heute anonym geblieben ist, ins Hotel. Er ließ sich am nächsten Morgen um drei Uhr wecken und saß pünktlich um neun Uhr wieder im Palais Schaumburg in Bonn an seinem Schreibtisch. Adenauers Chauffeur hat das in seinen Memoiren erzählt, ohne indiskret zu werden.

Ob ich in Adenauers Séparée zu sitzen kam, weiß ich nicht. Aber ich habe ziemlich sicher ähnliche Austern gegessen. Bei „Bofinger“ bezieht man sie noch heute von einem Züchter in Saint-Vaast-la-Hougue in der Normandie. Die dortigen Austern erleben einen Tidenhub von rund zehn Metern. Das heißt, das Wasser in ihrer Umgebung wird zweimal täglich komplett ausgetauscht. Im Ergebnis schmecken sie eigentlich nach nicht mehr als einem Schluck frisches Meer – nach einer Synthese von Wasser, Wind, ein bisschen Tang und Jod, vor allem aber nach einer unbeschreiblichen Frische.

Der erste Eindruck ist mir der liebste geblieben – aber Austern sind ein unglaublich vielfältiges Geschmacksimperium mit einer Vielfalt von Inseln und Archipelen, die große Besonderheiten haben.

Austern sind weder rar noch teuer

Franzosen sind die einzigen Europäer, die sich für gute Austern zerreißen würden. Zumindest setzen sie sich ins Auto und kaufen Austern nur dort, wo sie gute Qualität vermuten. In Frankreich werden jährlich knapp 145.000 Tonnen verzehrt, 90 Prozent davon aus einheimischer Produktion, die geringen Importmengen kommen aus Irland, Großbritannien und Belgien.

austern tagesdosis
12 Austern auf einem Teller | Foto: Norbert Schulz-Bruhdoel

Austern sind kein teures Vergnügen – das ist ein deutsches Missverständnis. Über die längste Zeit galten sie als die Nahrung der Armen in den Küstenregionen. In den Produktionsgebieten kostet ein Dutzend Austern mittlerer Größe heute zwischen sechs und acht Euro! Selbst in Paris, wo alles teurer ist als im Rest des Landes, gehört ein Plateau mit zwölf Austern zu den eher preiswerten Genüssen. Wer mehr als 18 Euro dafür zahlt, ist im falschen Lokal.

Fast die gesamte Küstenregion des französischen „Hexagone“ produziert Austern – überall dort, wo Flüsse Nährstoffe in flachen Küstenregionen spülen.

nach oben △

Die Austernregionen in Frankreich

Meine erste „Austerntour“ führte 1980 rund um das ganze Sechseck. Und ich war sehr überrascht von den Geschmackseindrücken, die in jeder Region anders waren.

Jede Auster spült pro Tag etwa 250 Liter Meerwasser durch ihre Schalen und filtert Einzeller und Algen heraus, von denen sie sich ernährt. Der Salzgehalt des Wassers und der Algencocktail beeinflussen ihren Geschmack. Die Jahreszeiten spielen mit, weil sie die Fülle des Nahrungsangebots steuern.

vendee hafen
Fischereihafen in der Vendée | Foto: Britta Lehna

Meine Reise rund ums „Hexagone“ führte mich durch alle Produktionszonen:

  • Normandie und Picardie, von der Baie de la Somme über die Ostküste der Normandie am Ärmelkanal, an der Westküste der Halbinsel Cotentin bis zur Bucht von Mont-Saint-Michel,
  • Bretagne von der Mündung des Cuesnon, rund um die Halbinsel über die Bucht von Morlaix, die Küsten des Finistère, die Flussmündungen von Aven, Belon und Étel und bis zum Golf von Morbihan und der Halbinsel von Guérande
  • das Mündungsgebiet der Loire mit der Insel Noirmoutier
  • die Vendée mit den südlich gelagerten Inseln Ré und d’Aix
  • das Gebiet von Marennes im Mündungsbereich der Seudre mit der Ile d’Oléron
  • die Bucht von Arcachon
  • am Mittelmeer die Lagune von Leucate und der Etang de Thau

Das Ziel war seinerzeit, überall Austern zu probieren. Die Eindrücke waren enorm und haben mich überrascht. Von klar, frisch, mineralisch in der Normandie über grasig oder nussig, süß, jodig oder gurkig an den Atlantikküsten und schließlich salzig, würzig am Mittelmeer war alles dabei.

vendee bar huitres
Bar à huîtres: in der Vendée (links), in Le Tréport, Normandie (rechts) | Fotos: Britta Lehna
le treport bar huitres

Für viele Gourmets sind die begehrtesten Exemplare die flachen, runden Austern aus dem Belon und den benachbarten Flüssen in der südwestlichen Bretagne. Diese letzten Relikte der „Europäischen Auster“ erinnern geschmacklich an Haselnüsse – natürlich mit einer ganz anderen Konsistenz. So wie der Nachgeschmack, als ob man ein paar Nüsse mit etwas Salz gekaut hätte.

Austern werden auch schwanger, sobald die Wassertemperatur das Signal gibt. Das ist in unseren Breiten im Sommer soweit – im Mittelmeer schon im Mai, am Atlantik im August. Als Hermaphrodyten sind Austern nicht festgelegt, wer wen befruchtet.

In diesen Zeiten sind Austern nicht jedermanns Sache. Hormone und sowohl Spermien wie Eier lassen die Austern anschwellen, ein Teil ihres Körpers wird teigig und fett – ich mag das nicht. Andere aber schwören, dann schmeckten sie am besten.

nach oben △

Warum Austern in den acht Monaten mit „R“ besonders begehrt sind

Das ist aber nicht der Grund, warum Austern in den meisten Gebieten zwischen Mitte September und Mitte April bevorzugt werden: Austern wurden bis tief ins 19. Jahrhundert nicht gezüchtet, sondern als Wildfang aus dem Meer geholt. Mit Rechen und später mit Schleppnetzen wurden sie aus dem Schlick geborgen. Im 18. Jahrhundert hatten die Fänge die Wildbestände bereits so dezimiert, dass Schutzzeiten befohlen wurden. Während die Austern laichten, war der Fang verboten.

Darum werden Austern bevorzugt in den Monaten mit „R“ angeboten, eine Erinnerung an diese Zeiten. Es gibt sie in Frankreich aber rund ums Jahr, weil die Nachfrage nicht nachlässt. In den Lokalen an den großen Boulevards in Paris, ob am Montmartre, am Montparnasse, in den Brasserien nahe den Bahnhöfen oder rund um die großen Plätze, steht zu jeder Jahreszeit ein Austernknacker bereit, um den Gästen den Genuss der tagesfrischen Ware zu ermöglichen. In den Zuchtregionen schließen im Herbst die Verkaufsbuden, weil die Touristen ausbleiben, aber in den Lokalen werden die Austern weiter im Akkordtempo geknackt.

Erinnerungen an barbarische Zeiten

Franzosen wollen wissen, dass sie etwas essen, was gerade noch lebt. Sie drücken ein paar Tropfen Zitronensaft auf das frisch geöffnete Tier. Wenn das Tier zuckt, das heißt, seinen filigranen Saum aus feinen Gewebsfäden in der Perlmuttschale kräuselt, dann empfindet diese Molluske etwas – sie lebt.

Der Connaisseur bricht mit einem kurzen Messer die Schalen auf, schneidet dabei den kräftigen Muskel an der oberen flachen Schale entlang ab, löst das lebende Tier, indem er den bereits durchtrennten Schließmuskel von der unteren Schalenhälfte schneidet, führt diese zum Mund und lässt es mitsamt dem Schluck Meerwasser, mit dem sich die Molluske am Leben gehalten hat, in den Mund gleiten.

Brutal, ohne jeden Zweifel! Du ernährst Dich ähnlich wie unsere Vorfahren, die vor vielen tausend Jahren die Küstenregionen Europas besiedelt haben. In Dänemark haben Menschen der Ertebølle-Kultur die „Køckenmøddinger“ hinterlassen, gewaltige Berge von Austernschalen, die sie zu mehrere Meter hohen Mauern auftürmten, um sich vor den Stürmen zu schützen. Solche Wälle von Millionen Tieren finden sich auf allen bewohnten Kontinenten.

cancale schalen
Schalenberg von Austern in Cancale | Foto: Norbert Schulz-Bruhdoel

In Cancale, einer Hochburg der Austernzucht an der Bucht von Saint-Michel, kann man das Lebensgefühl unserer Vorfahren, nachempfinden. Dort kauft man sich seinen Teller mit geöffneten Austern an einer der zahlreichen Buden, hockt sich auf die Kaimauer und wirft nach dem Genuss tatsächlich die Muschelschalen hinter sich. Die Züchter haben keinen Anlass, den zahlreichen Genießern hinterher zu räumen – das besorgen die rabiaten Winterstürme.

nach oben △

Austernzucht – ein komplexes Handwerk

Wer Austern züchtet, denkt wie jeder Unternehmer vor allem pragmatisch. In Frankreich leben rund um das Hexagon Zigtausende von der Austernzucht. Betriebe im Nordern vertrauen gerne ihren „Konkurrenten“ weiter im Süden: Weil die Austern wegen des kalten Wassers in der Normandie und an der bretonischen Nordküste nicht gerne laichen, werden viele Larven aus dem wärmeren Wasser im Becken von Arcachon verbracht. Dennoch wachsen sie zu den typischen Austern der Region heran.

Zwar werden Austern schon seit Urzeiten verzehrt. Bis zur Mitte des 19. Jahrhunderts wurden sie aber in Europa nicht gezüchtet. Erst als die ehedem reichlich vorhandenen Bestände weitgehend geplündert waren, gab der französische Kaiser Napoléon III. 1852 den Auftrag zu Zuchtversuchen. 1866 waren der Meeresbiologe Victor Coste und der Maurer Jean Michelet erfolgreich: Sie bestrichen Dachziegel mit einem wasserfesten Verputz, an dem sich die Austernlarven festsetzen. Davon konnte man die Jungtiere lösen, ohne sie zu verletzten.

recco giuseppe stillleben
Giuseppe Recco (1634-95): Stillleben mit Austern und Quitten. Paris, Louvre | Foto: RMN-Grand Palais

Vier bis fünf Jahre lang wachsen die Austern in Drahtkörben heran, die auf Tischen gelagert werden. Davon reihen sich hunderte in der Gezeitenzone aneinander. Bei Ebbe ragen die Tische aus dem Wasser, so dass die Austern lernen, ihre Schalen fest geschlossen zu halten, bis sie wieder in die Flut eintauchen. Durch dieses „Training“ überstehen die Tiere später mehrere Tage außerhalb des Wassers und bleiben frisch.

Die Körbe müssen regelmäßig gewendet und geschüttelt werden, damit die Tiere nicht miteinander verwachsen. Bevor sie in den Handel gelangen, müssen sie noch einige Zeit in klarem, mineral- und nährstoffreichem Wasser in den „Claires“ verbringen. Sie wachsen dort weiter und spülen allen Schlamm aus ihren Schalen.

Wenn sich die Austern nach vier bis sechs Wochen gereinigt haben, kommen sie als „Fines de Claire“ in den Handel. Wenn sie noch weitere Wochen, bei einigen Züchtern über drei Monate, veredelt wurden, sind sie „Spéciales de Claire“ und sind entsprechend deutlich teurer. Beim Züchter Gérard Gillardeau in Bourcefranc bei Marennes lässt man einen Teil über acht Monate zu „Pousses en Claire“ heranreifen. Ein Dutzend davon kostet dann zwanzig Euro.

Größe und Gewicht

austern markt rochefort
Zwölf zu 7 Euro in der Markthalle von Rochefort (Charente-Maritime) | Foto: Norbert Schulz-Bruhdoel

Verkauft werden Austern sortiert nach Größe und Gewicht. Die kleinsten haben die größte Zahl 5, die mittlere Größe 3 entspricht einem Gewicht von ca. 75 Gramm pro Stück. 2 – 1 – 0: Die größten Exemplare wiegen über 180 Gramm und sind acht und mehr Jahre alt, allerdings ist der verzehrbare Anteil im Verhältnis zu den Schalen gering.

pourville schilder
Strandbude in Pourville, Normandie | Foto: Britta Lehna

Ich kaufe meist die Größe 3, dann erscheint mir das Verhältnis von Lebewesen und Behältnis am ausgewogensten. – Bei den flachen europäischen Austern, den „Plates“ entspricht die mittlere Größe der Nummer 1 (70 – 80 Gramm), weiter geht es mit 0 – 00 – 000 bis zu den Schwergewichten mit fünf Nullen (140 – 180 Gramm). Was noch größer wurde, wird als „Pied de Cheval“ verkauft.

nach oben △

Migranten retten die Züchter nach einer Virus-Katastrophe

Bis 1875 entstanden 2.500 Zuchtanlagen, und die Branche wuchs weiter. Die „Belle Epoque“ machte in ganz Europa die Auster zum Liebling der gehobenen Stände. Überall in den besseren Restaurants, in den Theatern, Opernhäusern, Villen und Palästen schlürfte man Austern. Schließlich konnte nichts falsch daran sein, wenn Zar und Kaiser, Industriekapitäne und Generäle sich an den unscheinbaren Wesen labten.

Damals entstand hierzulande der Eindruck vom „Luxusgut“, was die Auster in Frankreich nie gewesen ist. Die deutschen Wildbestände in der Nordsee waren abgeräumt, Züchter gab es nicht. Ausfuhr- und Einfuhrzölle machten die Ware aus Frankreich teuer und für die meisten Deutschen unerschwinglich. Um den Verzicht erträglicher zu machen, wurden Legenden vom „Eiweißschock“ und anderen Gefahren verbreitet, die hierzulande bis heute nachwirken.

Doch die gewaltige Nachfrage führte bis zum Beginn des 20. Jahrhunderts zu einem Preisverfall, zahlreiche Zuchtbetriebe gingen pleite. Mit dem Ersten Weltkrieg brach nicht nur das Alte Europa in sich zusammen, der ganze Kontinent stürzte in die Verarmung. Als 1920 ein Virus die einheimische, europäische Auster, die „Huître plate“ (Ostrea edulis) in kürzester Zeit nahezu ausrottete, standen die meisten Austernproduzenten vor dem Nichts.

Ein Zufall brachte die Rettung: In Portugal hatte man etwa zugleich mit den Franzosen mit der Aufzucht begonnen, dafür aber eine aus Japan importierte Verwandte der europäischen Auster genutzt. Dort, ebenso wie in China und Korea, kannte man das Wissen um die Austernzucht schon seit mindestens 2.000 Jahren.

Ein Frachter, der solche pazifischen Felsenaustern der Art „Crassostrea angulata“ nach Großbritannien bringen sollte, geriet vor der französischen Westküste in einen Sturm und musste in der Flussmündung der Gironde Schutz suchen. In der Annahme, die Austern seien durch die Verzögerung verdorben, entließ der Kapitän seine Fracht ins Brackwasser. Doch die Tiere lebten, pflanzten sich fort, und in wenigen Jahren waren große Kolonien an der gesamten französischen Atlantikküste heimisch geworden.

Die Zucht mit diesen Immigranten erwies sich sogar als leichter, und so konnten diese „Portugaises“, wegen ihrer unregelmäßigen Form auch „Creuses“ genannt, die selten und kostbar gewordenen „Huîtres plates“ ersetzen. In Frankreich konnten die Produzenten aufatmen, die Umsätze stiegen sogar während der Kriegsjahre 1940 – 1944 weiter.

1970 kam die nächste Krise, als ein neues Virus auch die „Portugaises“ dahinraffte. Doch die französische Regierung half, indem sie die Züchter unterstützte und die Einfuhr einer weiteren, resistenten Art aus Japan finanzierte. „Crassostrea gigas“ dominiert seitdem an allen Küsten deutlich, 98 Prozent der gesamten französischen Produktion entfallen auf diese Spezies. In Frankreich werden sie weiterhin als „Creuses“ oder gar „Portugaises“ gehandelt, um die Verwirrung in Grenzen zu halten.

In Cancale und in den Flussmündungen von Belon und Aven hat „Ostrea edulis“, die ursprünglich einzige europäische Art überlebt. Im Bassin de Thau ist auch eine amerikanische Abart, „Crassostrea virginica“, heimisch geworden. Doch das Marktvolumen dieser Varianten liegt unter zwei Prozent der Gesamtproduktion.

nach oben △

Gesunde Geschmackssache

Wer Austern nicht mag, ist entschuldigt; niemand muss sich überwinden. Ein Freund wagte eines Tages die erste Auster seines Lebens, die ich als Appetithappen vor einem größeren Gelage angeboten hatte. Augen zu und … „ganz anders, als ich gedacht habe, gar nicht übel“, war sein Kommentar. Worauf hin seine Frau trocken anmerkte: „Jürgen, das Tier hat noch gelebt!“ – und Schluss war’s mit der Fassung, er eilte zur Toilette.

Sind Austern ein Aphrodisiakum, wie gerne behauptet wird? Wer daran glauben will, wird eine Wirkung spüren – Giacomo Casanova war sich ganz sicher. In seiner „Histoire de ma vie“ führt der venezianische Diplomat, Betrüger und Lebemann seine legendäre Lendenstärke darauf zurück, „jeden Tag mit einem Dutzend Austern“ begonnen zu haben.

Die Ärzteschaft hält sich in dieser Angelegenheit zurück, lobt Austern aber als leicht verdauliche und gesunde Mahlzeit. Von allen Meerestieren enthält Austernfleisch pro Gewichtseinheit das meiste Zink, ein Spurenelement, das zum Aufbau des männlichen Hormons Testosteron benötigt wird – vielleicht ein Hinweis? Darüber hinaus sind Austern reich an Magnesium, Kalium, Eisen und Phosphor. Die Vitamine A, B1, B6, B12, E und D3 runden das Spektrum ab. Meine Reisen gleichen seit etlichen Jahren einer „Austernkur“. Einige Wochen hindurch genieße ich sie täglich; und zumindest subjektiv geht es mir sehr gut dabei.

Lediglich 65 Kilokalorien pro hundert Gramm machen gewiss nicht dick, wenn man es nicht übertreibt: Der deutlich übergewichtige Honoré de Balzac begann mit dem Verzehr erst ab 60 Stück – als Vorspeise! Und Gioacchino Rossini bekannte: „Ein Tag ohne Austern und ohne Maccheroni ist ein verlorener Tag.“

Frische ist das A und O bei Austern

Sehr selten ist jemand allergisch gegen Austern und reagiert mit Übelkeit und Durchfall, manchmal auch mit Hautirritationen oder sogar Atemnot. Solche Allergien erstrecken sich oft auch auf andere Mollusken wie Muscheln, Schnecken und Tintenfische. Häufiger, aber immer noch selten, ist jemand empfindlich gegen die Einzeller, von denen sich Austern ernähren. Solche Allergien beruhen auf den Stoffwechselprodukten bestimmter Algen. Einen „Eiweißschock“ gibt es hingegen nicht.

Gefährlich kann es werden, wenn verdorbene Austern verzehrt werden. Finger weg von allen Tieren, deren Schalen sich geöffnet haben, sie sind tot und entwickeln sehr schnell Giftstoffe. Auch Austern, die kein Wasser mehr enthalten, werfe ich weg.

Es ist auch dringend davon abzuraten, verwilderte Austern zu sammeln. In der Umgebung der Zuchtanlagen kleben sie zu Tausenden an Felsen, Kaimauern und Schiffsrümpfen. Wie alle Wildtiere fangen sich Austern oft Parasiten ein, die Zuchtbetriebe werden regelmäßig geprüft, ob es in ihren Beständen einen Befall gibt – oder ob beispielsweise Giftalgen sich ausgebreitet haben. Auch die Wasserqualität kommt regelmäßig auf den Prüfstand, um eine Verunreinigung durch toxische Substanzen auszuschließen.

austern verwildert
Wilde Austern | Foto: Norbert Schulz-Bruhdoel

nach oben △

Welches Brot, welcher Wein?

austern plateau
Austern, Zitrone, Brot, Wein | Foto: Norbert Schulz-Bruhdoel

Ein Spritzer frischer Zitronensaft ist genug – mehr braucht eine Auster eigentlich nicht. In Frankreich wird meist neben der halbierten Zitrone auch ein Schälchen mit einem milden Weinessig und fein gehackten Schalotten serviert, manchmal auch mit Himbeer- oder Erdbeeressig. Und die Pfeffermühle steht bereit.

Ob Baguette dazu oder ein geröstetes Roggenbrot, ob Butter oder Tabasco, es bleibt Geschmackssache. In der Gegend um das Becken von Arcachon isst man dünne Scheiben einer mit Chili geschärften Wurst dazu, am Bassin de Thau setzt man auf Anchovis, in der Normandie auf kross gebratenen Speck. Im Elsass passen Austern und Sauerkraut zusammen, und in Deutschland wird häufig ein Schwarzbrot oder gar Pumpernickel mit Butter und Käse serviert.

Weiß und trocken

Auch das begleitende Getränk ist nicht definiert. Es muss keineswegs Champagner sein, wie man es oft in Filmen und TV-Produktionen sieht, wenn der Drehbuchautor Dekadenz zeigen will. Das macht das Vergnügen vor allem teuer. In den Regionen, wo Austern ein alltäglicher Genuss sind, bevorzugt man die Weißweine aus der Umgebung: in der Bretagne und im Loiregebiet greifen die Genießer zu einem Muscadet oder Gros-Plant. Die perlenden Crémants von der unteren Loire sind ebenfalls ideale Begleiter.

Weiter südlich kommen die trockenen Weißweine aus dem Bordelais zu ihrem Recht – vor allem aus dem Anbaugebiet Entre-deux-Mers. Am Mittelmeer trinkt man einen Picpoul-de-Pinet oder einen trockenen Rosé, zum Beispiel einen Vin de Sable von den Dünen zwischen Camargue und Cap-d’Agde.

In der Normandie ist auch ein trockener Cidre gerne gesehen. In der Picardie, Nord-Pas-de-Calais und Flandern sind die köstlichen Biere dieser Region normale Begleiter. Im französischen Binnenland greifen die Connaisseurs zu allem, was sich anbietet: An der Loire sind es ein trockener Rosé aus Anjou, ein Chenin Blanc aus der Touraine, ein Sancerre oder Pouilly-Fumet. Ein Chablis oder Aligoté aus Burgund, ein Riesling aus dem Elsass – angemessen ist alles, was trocken, weiß und leicht ist. Schwergewichte wie ein Meursault aus Burgund oder süße Weine wie Sauternes oder Monbazillac würden die zarten, frischen Nuancen einer Auster völlig übertünchen.

Keine Perlen

Theodor Fontane hat sich übrigens geirrt, als er sagte: „Ein Optimist ist ein Mensch, der ein Dutzend Austern bestellt in der Hoffnung, sie mit der Perle, die er darin findet, bezahlen zu können.“ – Eine Perle habe ich in 45 Jahren mit Austernmahlzeiten nie gefunden. Irgendwann habe ich erfahren, dass ich vergeblich gehofft hätte. Perl-Austern sind mit unseren Speise-Austern nur entfernt verwandt, es sind zwei völlig andere Gattungen, „Pinctada“ im Pazifik und „Pteria“ im Mittelmeer. Sie liefern die begehrten Kügelchen aus Perlmutt. Ihr Fleisch ist zwar essbar, wird aber überwiegend zu Fischfutter verarbeitet.


Norbert Schulz-Bruhdoel ist Journalist, Genussmensch und vielgereister Frankreichkenner.

pourville normandie
Pourville, Normandie: Austernrestaurant in Strandnähe | Foto: Britta Lehna

Ein Gastbeitrag auf nachfrankreich.de
Autor: Norbert Schulz-Bruhdoel, 2023

nach oben △

Scroll to Top